Der weinende Gletscher

20.08.2021

Der Weg schlängelt sich die Flanke hoch. Links und rechts grüne Matten, die von Felsen abgerundet werden. Wasser ergiesst sich herüber. Ich spüre meinen Herzschlag der die Stille mit seinem Pochen ausfüllt. Das Tal zeigt gegen Süden und vollzieht auf über 2000 Metern über Meer einen leichten Knick Richtung südsüdwest. Die Sauerstoffarmut lässt ein Wachstum der Bäume nicht zu. Einige Wacholdersträucher kratzen an meinen Unterschenkeln. Vermutlich bin ich der einzige Mensch in diesem Tal. Kurz vor der Fuorcla sacke ich auf der instabilen Seitenmoräne immer wieder ein. Keuchend bahne ich mir den Weg. Hier oben befinden sich noch die letzten Eismassen, die von abgeschliffenen Steinen begrenzt werden. Nur die korrodierten und deformierten Munitionshülsen, die einst in lächerlichen Salven abgefeuert wurden, liegen befremdend auf der Oberfläche. Vermutlich abgeschossen von der Schweizer Armee, die dieses schöne Gelände als wertlos einstufte. Gleichgültig opferte sie gar die natürliche Schönheit dieses Landes, perfekt vorbereitet für die Verteidigung des Vaterlandes, falls Vorarlberg, Buthan oder Costa Rica die Schweiz angreifen sollte.

Auf der Fuorcla blickt mir ein massives Eisfeld entgegen. Der Weg ist steil und instabil. Um die Hilfe meiner Stöcke bin ich froh. Schneehühner fliegen federlassend davon. Ein Hase hoppelt an mir vorbei - was für eine Wonne! Ich erreiche einen Bergsee mit kristallklarem Wasser. Am steilen Ostufer hüpfen etwa 20 Gemsen filigran den Berg empor. Ich entledige mich meiner Wanderkleider und springe in das kalte Wasser. Wellen stossen sich kreisförmig ab, die mein umständliches Froschschwimmen erzeugt. Lange halte ich es nicht aus, ehe ich mich auf einem Felsen trockne und aufwärme. Hier soll sich der idyllische Platz meines Nachtlagers befinden. Der Bach unter mir rauscht tosend. Es sind die Tränen des Gletschers. Am Morgen weint er weniger intensiv. Die Luft kondensiert zu kleinen Wassertropfen, die ab und zu meine Gesichtshaut kitzeln. Nach einem einfachen Frühstück steige ich fröhlich Meter für Meter hinunter, vorbei an Felsen und Steinen, die mit Flechten mosaikiert sind, an Wacholdersträuchern, Disteln und Heidelbeeren, die ich hin und wieder genüsslich Pflücke. Die Alp scheint unbewohnt, obwohl gegenüber ein Paar schwarze, zäh gegliederte Rinder grasen und mich ignorieren.

Erst ein Weile unter der Alp begegne ich erstaunt einem Deutschen Ehepaar, das dieses abgelegene Seitental begeht und mich des Weges erfragt und dabei mit einer schieren Menge lokaler Flurnamen jongliert, als wären sie die Wildhüter dieser Talschaft. Land und Leute, Flora und Fauna scheinen sie akribisch für die gründliche Ferienvorbereitung studiert zu haben. Am Schluss unserer Konversation machen sie mich aufmerksam auf die Umgehung, das sie mit einer penetranten Aussprache des Endbuchsstabens vollführen. Diese Umgehung sei für den Bau des Kleinwasserkraftwerks angelegt worden, werde ich informiert. Weshalb ein solcher Eingriff mit schwersten Maschinen notwendig ist, scheint mir unergründlich. Die wenigen Kubikmeter Schmelzwasser, welcher der jämmerliche Gletscherfirn noch hergibt, wird in zwei Jahrzehnten kaum mehr zur Verfügung stehen. Unten im Tal reihen sich Wohnmobile, Autos und Motorräder so dicht aneinander, dass die Einsamkeit und Stille bestialisch verschwinden. Ich sehne mich zurück, hinauf, wo die Welt so schön und vermeintlich heil war. Würden die Autofahrenden ihr Handeln überdenken, wenn sie um die Schönheit des Gletscherfirns 1500 Meter über ihnen wüssten? Würden sie empathischer, wenn sie mitbekämen, wie der Gletscher weint? Wie seine Masse unwiederbringlich entschwindet? Dort oben, wo mich Schneehühner, Hasen und Gemsen grüssten. Menschliches handeln ist selten rational, denke ich. Nach dem nächsten Dorf steige ich wieder hinauf und lasse den schwer erträglichen Lärm der Strasse unter mir.

Ich erfreue mich auf der staubigen Strasse wieder dem Geräusch des Tannenhähers, der zu meinem vollendeten Glück akrobatische Flugeinlagen vollführt. Ich steige weiter, hinauf zum Sattel und vom Sattel auf die steinige Erhebung. Es ist beinahe still. Nur in der Ferne höre ich zart das Rauschen des Baches. Mit der Sonne kommt der Wind, der mir rebellisch um die Ohren streift. Dunkle Wolken schlucken die Sonnenstrahlen und zämen den kühlen Luftstrom. Bald schieben sich Piz Bernina und Piz Palü, diese vergletscherten Riesen von anmutiger Schönheit, am schroffen Piz Quattervals vorbei. Die Flanken sind so rauh und ehrfürchtig. Die Melancholie hat unlängst wieder meine sensible Seele ergriffen. Gibt es etwas schöneres auf Erden?

© 2023 Sandro's Reiseblog. Alle Rechte vorbehalten.
Unterstützt von Webnode
Erstellen Sie Ihre Webseite gratis! Diese Website wurde mit Webnode erstellt. Erstellen Sie Ihre eigene Seite noch heute kostenfrei! Los geht´s