Weisse Wäsche

24.10.2021

Seit nunmehr zwölf Jahren gehören diese Häuserreihen zur Kernstadt. Doch weder in der Idylle noch im Wesen hat sich die gesichtslose Betonsiedlung wesentlich assimiliert. Statt Bio und Kräutergarten überwiegen günstige Lebensmittel der manufakturellen Nahrungsmittelindustrie und bienenfeindliche Topfpflanzen in lieblos gefertigten Plastikgefässen. Statt dem stylishen Velo blitzt der blankpolierte BMW auf. Hie und da nur wächst ein zartes Pflänzchen heran, das einen urbanen Charakter auffunkeln lässt. Das Schulhaus in der Senke wurde liebevoll in zeitgenössischem Antlitz neu erstellt, voll respektvoller Harmonie und zierenden Elementen.

Charakteristisch für dieses Quartier ist eine Eigenart, die sich zelebrierend veräussert und sich in den hellen Morgenstunden abspielt. Dann erscheint der günstige Moment, in dem Fenster geöffnet werden - ebenso zahl- wie zügellos. Die Dämmerung hat sich zugunsten des neuen Tages verabschiedet und die zu statuswecken angeschafften Vehikel haben sich in die Vorstädte verteilt oder lassen ihre Motoren nun auf den Autobahnen aufheulen. Nun also, die offenen Fenster. Bald erhellen unzählige hängende Bettdecken die Fassaden. Unter beschwerlichen Gebärden werden diese allmorgentlich aus den Fenstern gehievt und ordentlich durchgelüftet. Manchmal werden sie zu hohen Stapeln aufgeschichtet, drücken sich dann qualvoll auf den Sims. Eine herausragende Stellung kommt dem Kissen zu, das sich stets zuoberst erfrischen kann. Diese strenge Hierarchie ist höchst plausibel, ermöglicht das Kissen dem Kopf schliesslich eine weiche Grundlage, der das teuerste und energieintensivste Organ des Homo sapiens beherbergt. Obwohl eine Langzeitbeobachtung noch im Gange und die These der Häufigkeit dieses Gehänges nicht abschliessend geklärt ist, deutet manches darauf hin, dass die Decken ungeachtet der herrschenden Witterung und schon gar nicht der Temperatur gelüftet werden. Ob das nächtliche Kondensat noch die Umgebung beeinflusst und sich zuverlässig auf die sanften Stoffe legt, bleibt weitestgehend vernachlässigt.

Das gesamte Schauspiel ist Ausdruck tiefster häuslicher Geschäftigkeit, die im Kern der Handlung einen akut bewahrenden Charakter aufweist. Ein museale Bewahrung alter Werte, ein Importgut aus Südosteuropa und dem Kaukasus, das diesen Häuserreihen temporär anhaftet. Beim assoziativen Anblick dieser Decken erkenne ich simple Produkte die einen synthetischen Polyesterinhalt aufweisen, wobei das zelebrierende Ritual obsolet wird. Bildete Schurwolle, dieses Naturprodukt, den Inhalt, rechtfertigte sich dieses Prozedere eher. Dasselbe gilt für die Haare vom zentralasiatischen Yak, die Wolle des Kaschmirschafs oder dem Kamelhaar. Ob diese Produkte in einer durchschnittlichen Wohnung in einer Banlieue tatsächlich zu finden sind, bleibt zu bezweifeln.

Wenn vorliegend der gesamte Akt infrage gestellt wird, so sei dennoch dieser altertümliche Brauch nicht pauschal in Abrede gestellen. Jetzt wo die Massen an fernöstlichen Touristen die Leuchtenstadt nicht mehr zahlreich beschwängern, könnten neue Wege anvisiert werden. Der blauweise Visittrain der Stadt müsste wochentags nur zwischen 9 und 10 Uhr in diese Gegend am Stadtrand fahren, um diesem Spektakel beizuwohnen. Und wenn die hiesige Fasnacht dem Basler Pendant nicht der selbe internationale Zuspruch gebührt wird, könnte alternativ dieses Heraushängen der Decken bei der UNSECO als immaterielles Kulturgut angemeldet werden. Damit wäre die angeschlagene Ehre gerettet, ein neuer touristischer Absatzmarkt eingeschlagen und die vornehmlich slawische Diaspora bekäme die verdiente Aufmerksamkeit, wobei der integrative Charakter ein angenehmer Nebeneffekt darstellte.

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