Zirpen

08.07.2019

Der heutige Zeltplatz unterscheidet sich durch seine Grandiosität von seinen vorgängigen Kontrahenten. Die Strasse ist durch einen natürlichen Wall abgeschirmt. Dahinter liegt das Panorama mit einem türkis schimmerndem See, beige, erodierte Hügel in wilden Formationen, hintergründig die mächtigen, felsiggrauen Giganten. Gewitter und Schauer beleben die Szenerie auf der Nordwestseite. Selbst ein Bad im See gönne ich mir. Die Küste ist menschenleer. Am Abend sehen sich die Augen kaum satt. Die Wolken sind zu einer friedlichen Masse mutiert und verziehen sich allmählich. Im Osten funkeln bereits die ersten Sterne. Als das Gähnen meine Augen wässern und der Himmel verschwimmt, lege ich mich ins Zelt. Zirpen beschallt den jägergrünen Silikonstoff des Zeltes, was meinen beginnenden Tiefschlaf nicht kümmert.

Im Wunderland lasse ich einen alten Benz mit Weissbandreifen auf einem 3D-Drucker anfertigen. Das Modell besitzt die Form einer Kartoffel. Auch die rosa Farbe entspricht nicht meinen Vorstellungen.

Ein fürchterliches Zirpen lässt mich nicht mehr insistieren. Zuerst will ich es ignorieren, aber der Traum kehrt nicht zurück. Was soll's, war ohnehin reine Makulatur. Aber was soll das Zirpen! Verdammt, mein Schädel brummt. Woher kommt das? Wer erfindet eine solche Kreatur mit einem solchen Geräusch? Es erinnert mich an den Wecker, den Grossmuetti als Werbegeschenk erhalten hat und mir vermachte. Ziemlich stolz war ich auf diesen chinesischen Gegenstand, den man jeden Monat sechs Minuten zurückstellen musste, weil die Sekunden zu knapp bemessen waren. Und der Ton, den dieser Gegenstand erzeugte - wider jede Vernunft. Ein synthetischer Piepton mit kurzen Pausen zwischendrin, sich endlos wiederholend, bis man die Schlummer-Taste betätigt. Es gab auch die Radio-Wecker-Funktion, die ich allerdings nur ein paar mal verwendete, bis mir Barbara Büttners sonore Stimme, gefüllt mit wichtigen und unwichtigen Meldungen, verleidete. So nahm ich den synthetischen Ton wieder auf. Erst meine damalige Freundin brachte den Wecker zum Schweigen. Die letztjährigen Zügelorgien dürfte er nicht überlebt haben.

Und nun dieses grässliche, endlose Zirpen, meinem seligen Wecker ähnelnd, an diesem schönen Platz in Kirgisstan. Dieses Ding muss ich zum Schweigen bringen! Nein, so kann ich auf keinen Fall weiterschlafen! Schwerfällig steige ich aus dem Zelt (nachdem meine Finger mehrfach den Schlitten des Reissverschlusses verpasst haben). Wahllos trete ich gegen ein Grasbüschel. Ich taumle, torkle, stolpere über Abspannschnüre des Zeltes. Ich musste ein klägliches Bild abgeben. Das Zirpen ertönt noch immer. Noch viel höhnischer als zuvor, wie mir scheint. Dieser schroffe Ton, mit einer solchen Konstanz, einem solchen Intervall. Beinahe hörte ich Siegesfanfaren, als ich wieder ins Zelt schlüpfte. Nur die Ohrstöpsel halfen dem Schlaf wieder.

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