Wieder einmal auf dem Velo

05.06.2022

Wie gerne kehre ich auf den ledernen Sattel zurück um dieses heimelige Gefühl jenes Jahres 2019 wieder aufkeimen zu lassen, wohl wissentlich, dass es sich kaum um eine Fortsetzung handelt, vielmehr um eine beschränkte Zeit der grossen Intensität. Einmal mehr lautet die Konklusion, dass es nicht viele intensivere Erlebnisse gibt, dieser blauen Murmel so nahe zu sein wie auf dem Velo. Das Teilstück - für das beschriebene Gefühlsempfinden oftmals zu vernachlässigen - führt zusammen mit zwei Freunden durch den südwestlichen Balkan, dort wo heute überwiegend Albaner und Hellenen ihre Staaten gründen. Auf dem knapp 1000 Kilometer langen, zufälligen Wegstück erfassen wir jeden Abschnitt genaustens und sehen mit Entsetzen, welche Plastikflut sich in den Strassengräben türmt, wie viele Tierkadaver die Strasse opfert und fragen uns, weshalb wir gegenwärtig nicht in der Lage zu sein scheinen, schöne Gebäude und Siedlungen zu kreieren.

Im Gegenzug arbeiten sich unsere Körper unter der hitzespendenden Sonne mit zwei Rädern und ein paar Taschen für den täglichen Bedarf mechanisch den Asphalt entlang. Die stark zersetzte Küste des adriatischen Meeres metamorphisiert südlich alsbald zu einer symbiothischen Ackerbaukultur und einigen Behausungen. Beeindruckt von der kleinteiligen Landschaftsgestaltung fahren wir an korrodierten Ölförderanlagen vorbei, die sich über die Ebene bis zum schattierten, aber kargen Hügelzug punktweise zeigen. Irritiert und ungläubig lassen wir unsere Räder vor einem schwarzen Loch quietschend halten und riechen diese pechschwarze, ölige Masse. Reichtum - im Sinne der ökonomischen Wahrnehmung - scheinen sie der Umgebung kaum gebracht zu haben. Dafür ist die Landschaft eindrücklich. Immer höher Türmen sich die Berge auf, die sich im Fundament bewalden lassen, das sich höher zu einer schütteren Zwischenzone bewegt um gegen den spitzigen Horizont felsig zu werden und sich in auserwählten, nord bis nordnordost exponierten Runsen kristalline Schneeresten beherbergen. Die Behausungen an den Berghängen weisen schmucke Steinhäuser mit kalkverputzten Erker und holzsprossigen Fenstern auf und tragen zu einer verschachtelten Gesamterscheinung bei. Der Muezzin singt durch die Lautsprecher der Steinminarette widerhallend, ohne dass das Hintergrundrauschen aus Verkehrslärm, Hundegebell und Kindergeschrei gänzlich versiegt. Fortan steigt das Tal mässig an und verästelt sich ab und zu launisch in Nebentäler. Eine kleine Steinwerkindustrie findet sich in den Tälern, von dem die geschichteten Steinplatten, den fragmentierten Staubkummulationen und dem durchaus regen orangenen LKW-Verkehr zeugen. Einigen Pinien- und Föhrenstreifen später werden Kirschen und Honig am Strassenrand für ein paar Münzen feil geboten, bis sich die Landschaft schlundartig zu einer eindrücklichen Schlucht öffnet, bei dessen bergseitigem Eingang sich ein passendes Nachtlager aufschlagen lässt und das gewärmte Wasser die Hinterlassenschaften des strengen Tages auf Haut und Poren wegspült. Die Strassen werden unwegsamer und steiler. Hinter den Köhler, die uns freundlich zuwinken, biegen wir in die dürftige Passstrasse ein, von der man uns im Tal unten prophezeite, dass sie mit dem Velo unpassierbar sei (was unseren abenteuerinstinkt entfachte). Ein paar Häusergruppen erspähen wir auf dem Weg an den steilen Berghängen, doch einer Seele sind wir schon lange keiner mehr begegnet. Auf einer Anhöhe werden wir überraschend von handgefertigten Köstlichkeiten gesättigt. Mit dem starken Gefälle jenseits des Sattels erlischen unsere glühenden Körper, wohingegen die Scheibenbremsen zunehmend einen branntigen Geschmack in unsere Nasen treibt. Den Wegesrand säumen herrlich blühende und gar wohlriechende Pflanzen. Begeisternden fahren wir an wilden Feigenbäuen vorbei und füllen unsere Flaschen mit kühlem Bergwasser, das aus irgendeiner Spalte hervordringt.

Wild wird es im Epirus hinter der Grenze wieder. Die tiefen Wälder und ruhigen Strassen bringen ein erhabenes Gefühl der Einsamkeit hervor. Bei Tageslicht erquicken uns die Schildkröten und spiralfliegenden Steinadler oder wir erspähen Schlangen, die sich flüchtend ins nahe Gebüsch schlängeln. Die ausgetrockneten Bärenspuren im lehmigen Untergrund und der von uns einstimmig als Wolfskot deklarierte fasrige Schlauch verstärken diese Gefühle abermals. Mit der Wildnis gehen auch die dünn gesähten Unterkünfte einher, die bei einbrechender Dunkelheit zu einer latenten Furcht aufkeimt und beim Übernachten im Zelt gar zu sparchlosen Nachtessen und vermeintlich klappernden Menschengebissen führen kann. Am nächsten Morgen wollen alle gut geschlafen haben obwohl die äusserste Physiognomie das Trugbild wohl entlarvt. Die Wälder bleiben dicht und wir radeln auf verwaisten Strassen, die nur unserer Wenigkeiten wegen zu existieren scheinen. Erfreut über die Tatsache ist die Erleichterung fühlbar, die sich bei der herausbildenden nächsten Siedlung manifestiert. Der Schönheit ist der eingebüsste wilde Charakter des Pindos kaum abträglich - die Umgebung noch immer dünn besiedelt, vergleicht man mit der helvetischen Dichte.

Die topografischen Gegebenheiten der Strassen erzwingen uns abermals zu Routenoptimierungen. Die unverhofften Entdeckungen spektakulärer Bergspitzen, unverbauter Flussläufe und alten Olivenhainen überdauern. Selbst dem Zentrum der Antiken Welt nähern wir uns willkürlich, dessen Tragweite uns nachträglich ein schmerzliches Empfinden spüren lässt, denn das charakterisiert die ausgeübte Tätigkeit: nicht jeder Abstecher kann unter der Berücksichtigung der Muskelkraft und Gravitation aufgesucht werden (ob das Orakel das vorausgesagt hätte, müssen wir an dieser Stelle unbeantwortet lassen), gerade wenn unsere Fähre einen Tag früher ablegt und so bleibt als letzter Höhepunkt die Überfahrt auf der Schrägseilbrücke über den Golf von Korinth, bei der die investierten 770'000'000 € keine Fahrradrampe vorgesehen haben, so dass wir in mühseligen Kleinschritten unsere Last im Gänsemarsch die Treppenstufen empor und heruntertragen. Auf der 33 stündigen Fährfahrt bleibt Zeit sich der Eindrücke zu berieseln und zu resümieren, dass sich die Ferien wie einen ganzen, erfüllten Monat angefühlt haben. Das schafft das Velo.

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