Wie lange legal im illegalen Staat?

24.02.2019

Nach zwei Stunden Fahrt - die Temperatur um den Nullpunkt - hatte ich das sonderbare Bedürfnis, mein Velo zu reinigen. Und so klebten die Sandpartikel bald nicht mehr am grünen Stahl, sondern legten sich länglich auf einer Velolänge auf den Verbundsteinboden einer stillgelegten Tankstelle. Da ich die Arbeit gründlich verrichtete, bewegte sich der Minutenzeiger um 270 Grad. Beim anschliessenden Cheesburger, Tee und dem chemischen Gebäck (nach drei Bio-Veganen-Mahlzeiten hatte ich mit der gesunden Ernährung jäh gebrochen) in einem Tankstellenimbiss, nahm ich mir reichlich Zeit. Selbst die Tagebucheinträge schrieb ich in königsblauer Tinte ausgedehnt. Beim Zeitverzögern wurde ich plötzlich so kreativ wie italienische Fussballer, deren Team in Führung liegt. 24 Stunden beträgt die Aufenthaltsdauer in Transnistrien, ohne dass man sich zu registrierten hat. Die Übernachtung ist in der Hauptstadt Tiraspol geplant, weshalb aus taktischen Gründen eine frühe Einreise den Folgetag stressiger machen könnte. Wenn Grenzen bisher zu einer Verkehrsflaute führten, so stieg der Verkehr um die moldauisch-transnistrische Grenze signifikant an. Insbesondere Busse überholten mich konstant. An der Grenze stellte ich nicht ohne Erstaunen fest, dass kein einziges Fahrzeug, kein einziger Bus zu sehen war. Dieser schmale Schlund mit dem Blechdach und den krummen Stützen scheint alles geschluckt zu haben. Die wilden Grenzhunde waren weitaus aggressiver als die Männer, welche zur Sicherheit von einem Staat bezahlt werden, der zwar existiert, aber  international nicht akzeptiert wird. Ich gab zu Protokoll, dass ich nach Odessa fahre. Die Tatsache, eine Nacht in diesem rotgrünrot beflaggten Land zu verbringen, konnte ich nicht mehr veräussern, vielmehr wurde mir der Pass mit dem weissen Kreuz, von einer bleichen Hand mit schwarzen Haaren auf deren Rücken, zurück an die Brust gepresst. Perplex verneinte ich beim nächsten Posten, dessen Kopf das Gewicht einer Mütze aus Lammfell mit goldener Sichel und Hammer tragen musste, die Frage Drogen und Waffen zu besitzen. Und durch war ich. Nur, was bedeuten die Ziffern, 'Aufenthalt bis 25.2.2019 0:09:23' auf der Migrationskarte? Ich muss vorsichtiger sein an Grenzen. Ich muss Grenzen generell ernster nehmen. Es gibt Leute, die glauben fest an Nationalstaaten - auch wenn sie nicht existieren.

Die Leninstatuen und aufgestellten Panzer-Mahnmale wechselten sich bald ab. Die geweisselten Randsteine sind bemüht die komplizierte Führung der Strassen zu unterstützen, die grosszügig angelegt sind. Vor der Brücke über den Dnister errichteten russische Militärs eine Strassensperre, deren Hauptaufgabe es wohl ist, furchteinflössende Mienen aufzusetzen. Der Stadtrand wird durch Sheriff markiert. Mehrere Stadions und Trainingsplätze dienen den Fussballern dazu, besser zu werden. Sheriff Tiraspol ist nicht nur ein lokaler Fussballverein, sondern auch Einkaufszentrum, Tankstelle, Werbeagentur, Autogeschäft und was sonst noch Wertschöpfung generiert. Der kleine russische Vasall wirkt surreal, der nur von Abchasien und Südossetien anerkannt wird. Deshalb wird das Flaggen-Ensemble im Halbrund zusammen mit der Russischen und Transnistrischen auf dem Hauptplatz durch diese Staaten komplettiert. Sie umrahmen ein Plakat mit einem goldenen Stern, roter und grüner Farbe und den Jahreszahlen 1990 und 2019. Strassenschilder machen darauf aufmerksam, dass diese Inszenierung durch einen Sensor abgelichtet werden darf. Diese Fotografie-Schilder sind ebenso merkwürdig wie die WC-Schilder am Strassenrand, so dass ich befürchtete, dass plötzlich eine Reihe TOI TOIs eine Lücke in die Eichenallee reisst. Dann dämmerte es mir: Wenn ich die Ziffern 0:09:23 der Zeit des Grenzübertritts 14:42 addiere, komme ich auf kurz nach Mitternacht (ob die transnistrischen Vampire fünf Minuten später ihre Arbeit beginnen oder ob es sich um eine Gnadenfrist handelt, ist mir sekundär). Bis dann habe ich Zeit. Weil die Macht von Ignazio Cassis in die abtrünnige Republik beschränkt ist, entschloss ich mich nicht zum Zivilen Ungehorsam und trat unentwegt weiter.

Und plötzlich wurde mir diese Stadt, ja dieses Land, unheimlich. Lag es an den Hunden, die mich nicht mehr angriffen? Oder daran, dass der Typ der mir entgegenkam aussah wie Ramsan Kadyrow? Oder doch an den schmalen LED-Ampeln die mich noch nie irgendwo sonst bevormundet haben? Was machen die wenigen Leute in einer solchen diffusen Stadt, in der alle Gebäude wie ein Bühnenbild wirken, in dem das nächste Freilufttheater über die grosse Idee der Ratunion inszeniert wird?

Irgendwie war ich froh, das östliche Stadtende mit dem verrosteten Wasserturm und den Betonrohbauten, erreicht zu haben. Dahinter folgten ein paar Datschen mit kümmerlichen Weinlauben. Bis zur Grenze waren es noch drei Kurven und zähe 25 Kilometer. Die Bäume standen Spalier und blickten mich mit ihren weiss tätowierten Rinden an.

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