Freunde für einen Tag

Die Empfehlung schlage ich aus. Die Informationen waren mir nicht opportun. Noch immer traumatisiert von jener Marschrutkafahrt im Mai des Jahres 2016. Damals wurde ich Zeuge beispielloser Überschätzung der eigenen Fahrfähigkeiten und totaler Unkenntnis der physikalischen Gesetze. Sich als Velofahrer auf die vielbefahrene und vermeintlich gesetzlose S1 zu stürzen, ist höchst unvernünftig. Die Alternative, minimal vernünftiger und ausdrücklich nicht empfohlen, ist eine Strasse die kaum benutzt wird, in schlechtem Zustand und eventuell schneebedeckt ist. Die Wahl fällt auf das kleinere Übel. Weitere Alternativen hat man sich zwar überlegt, werden nur dann angewendet, wenn das kleinere Übel sich wider Erwarten als grösseres Übel herausstellen sollte. Die ersten 20 km führen durch georgisches Idyll, das sich mit Winken, kurzen Gesprächen am Wegesrand und Nutztieren, die ganz emanzipiert frei und glücklich nach dem deliziösesten Futter Ausschau halten dürfen, bemerkbar macht. Manches Huhn wird vor Schreck womöglich kein Ei am Folgetag legen. Es ist erstaunlich welche Geschwindigkeiten die knorpeligen Beine dieser bodenorientierten Vögel erreichen können.
Im letzten grösseren Ort werden noch ein paar Vorräte und Wasser erstanden, da dem kleineren Übel nicht durstend, gar hungernd getrotzt werden soll. An jener Stelle, wo das kleinere Übel beginnt, erkenne ich zwei speisende Leute auf einer Parkbank, die sich durch ihre vollbepackten Velos von der hiesigen Bevölkerung unterscheiden: Noémie und Clément aus Besançon. Das gleiche Alter, das gleiche Tagesziel und die gleiche Ungewissheit vereinen uns. Gemeinsam stellen wir uns dieser Herausforderung.
Die Strasse hat das Ende des Dorfes noch nicht erreicht, aber dennoch beschlossen, ihr planiertes und asphaltiertes Kleid abzustreifen. Die zufällig auftretenden Löcher sind mit braunem Wasser gefüllt. Die Steigung ist zu gering, um sie als diese zu benennen. Die Strasse führt dem rauschenden Fluss entlang. Wie eine Schlange durchziehen die Gleise das von laublosen Bäumen bewohnte Tal. Die Holzbauten geniessen die Abgeschiedenheit genauso wie die zahnlosen Frauen mit den schwarzen Röcken und Kopftüchern auf der Sitzbank davor. Das nun ansteigende Längenprofil der Strasse ist durch sandig, lehmigen Untergrund geprägt. Zwischendrin haben sich Steine niedergelassen. Rebellisch formt der Bach die Strasse, der durch Schmelzwasser gespiesen wird. Diese Hybride Nutzung ist platzsparend. Wir fühlen uns wie kanadischer Wildlachs, der mühevoll den Yukon zu erklimmen hat. Ein Unwetter hat den Weg derart malträtiert, dass er seine Funktion nicht mehr ausüben kann. Karten werden hier keine nachgeführt. Die durch wilde Gestik geäusserte Empfehlung der Frau mit der blauen Schürze, unsere Fahrräder über den steil abfallenden Acker, dann durch eine Kiesgrube zu stossen, um die neue Strasse zu erreichen, halten wir nicht für ideal.
Zum Glück muss ich mich nicht nach jedem Meter fragen, ob ich nicht doch ein anderes Übel wählen soll. Zu eifrig sind wir am Werk und treten immer weiter in dieses Tal hinein, bis zu jenem Punkt, wo sich ein Umdrehen nicht mehr lohnt. Solange uns dieser blaue Ford Transit entgegenkommt, bleibt sie wohl befahrbar, beruhigen mich meine Gedanken. Irgendwann kommt der Moment, an dem der Schnee und Dreck uns zum Stossen zwingt. Ein prähistorisches Schneeräumungsgefährt, das schwarze Wolken herauspustet und den Anschein erweckt, vertikal pflügen zu können, fährt in dieser Einöde voraus, als wäre es verpflichtet, uns den Weg frei zu schoren. Dass es nicht nur den Schnee, sondern auch die halbe Strasse weggeräumt, scheint die Pflicht dieses Gefährtes zu sein. Die zwei Herren auf der Passhöhe, ihr Atem ist mit Alkohol angereichert, verfehlen ihre Werbung zur Wodkarunde. Der Ausblick auf die kahlen Wälder und die verschneiten Steinhäuser im Tal auf der ostgeorgischen Seite, sind der Lohn der Mühen.
Auf der vielbefahrenen Asphaltstrasse im Tal, der berüchtigten S1, zeigt sich die zwei Monate längere Lebenserfahrung der Franzosen. Mit schnellen Handbewegungen werden Schlaglöcher und Hindernisse zuverlässig angezeigt. Unsere Zweckgemeinschaft verfällt nach dem das Ziel erreicht ist, nicht. Ein Hotelzimmer wird geteilt, das aufgrund fehlender Elektrizität zunächst von Kerzen romantisch erhellt wird.
Die kritischen Töne beim Dinieren zeigen die Gemeinsamkeiten weit über das Fahrradfahren hinaus, auf. Nach dem üppigen Frühstück und den melancholischen Anekdoten zur Tour de France der früheren Jahre, dort bei der staubigen Kreuzung, trennen sich unsere Wege. Ich wünsche mir öfters Freunde für einen Tag.