Die Marschrutkafahrt

17.06.2019

Seine innere Uhr scheint nicht mit einer Atomuhr synchronisiert zu sein. Auf die Frage wann er abfahre, entgegnet er: "in fünf Minuten!" und blickt nur kurz vom Smartphone auf. Er kniet in der unverkennbaren zentralasiatischen Stellung am Hinterrad seines Mercedes Sprinters, der so ausgebaut ist, dass sich viele Menschen drin schachteln können, ohne dabei die geringsten Sicherheitsstandards zu erfüllen. Drei Leute vom Flughafen Manas in die baldige Millionenstadt zu befördern, scheint ihn nicht zu befriedigen. Eine Passagierin fragt, wann er abfahre: "in drei Minuten!". Der Motor startet just nach diesen Silben, ein paar Leute werden willkürlich angehubt, bei anderen wird "Stadt!" hinaus gerufen. Das Marketing scheint nicht zu überzeugen. Als die Barriere zur Ausfahrt auf die gerade Strasse nicht öffnet, erkenne ich im Rückspiegel ein Gesicht, das keinerlei Lebensfreude ausstrahlt. Ob sich sein Antlitz später transformiert, bleibt mir ungewiss.

Der Bus bremst hart, die Tür wird geöffnet, Menschen strömen hinein. Alles wickelt sich über diese rechte Fronttür ab. Jeder abgesessene Sitz wird schnellstens in Beschlag genommen und mit einem Keuchen quittiert. Bevor jedoch der mühevolle Gang zum Sitzplatz angetreten wird, drückt man ein paar Noten in die rechte Hand des Fahrers, der manchmal Noten mit kleineren Zahlen drauf, zurückwirft. Das sind einige Sekunden bei der das Gaspedal sich aus der Misshandlung befreien kann, bevor es von der abgeschliffenen Sohle wieder hinuntergedrückt wird. Mein aussichtsreicher Sitzplatz büsse ich nach den Feldern ein. Einige ältere Damen am Strassenrand haben den Arm ausgestreckt, was die Marschrutka abrupt halten lässt. Die sehnige Frau hat nun den Blick frei auf die verschneiten Gipfel, die am Morgen noch nicht den Sonnenschutz aus Wolken tragen. Ich halte mich an der Eisenstange fest, kann mich aber später neben den spreizbeinigen Mann in der Trainerhose setzen. Es ist die hinterste Bank! Kaum jemand gelangt hierhin, durch diese Menschenmasse. Der Ausgang scheint unerreichbar. Die Dachlucke transportiert fleissig frischere Luft ins Innere. Am Husten des Nebenmanns erkenne ich den selbstgebrannten Wodka und bin froh, dass der Alkoholismus nicht durch Tröpfchen übertragen werden kann.

Die Container und Plastikwaren des Osch-Basars sind noch nicht in Sichtweite, als sich der weisse Sprinter allmählich entleert. Auch ich steige irgendwann über die Beine in der Trainerhose und schlendere in geduckter Haltung zur Front, wo ich meine Pflicht entrichte. Die schön gefalteten Noten werden ebenso würdelos wie ihre zerknüllten Kontrahenten an die Frontscheibe geknallt. So steige ich aus dem ineffizienten Verkehrsmittel aus und bin stets von neuem erstaunt, wie ein solches, mühevolles System, die postsowjetische Zeit erreichen konnte.

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