Der tanzende Bus

12.04.2019

Auf einen gemütlichen Ausflug in die umliegenden Berge und das pittoreske Bergdorf freue ich mich, währendem das Gesuch um die Visaverlängerung bei der Polizei schlummert. Es ist Freitag, der im Iran seine wahre Bedeutung entfaltet. Gegenüber dem Kaveh-Busbahnhof muss der Strassenrand die Masse von einigen Cars aushalten. Auf dem Trottoir daneben haben sich Gruppenweise Menschen formiert. Bunt ist der Anblick, welcher durch Händeschütteln, Küssen und Lachen ausgeschmückt wird. Die Sonne hat die morgendliche, rituelle, rötliche Färbung der Erdatmosphäre beendet, als der Car seinen Motor startet. Teppichmuster zieren die Sitze und Decke des skandinavischen Herstellers.

Mahad, deutet mit seinen sehnigen Fingern auf die Lautsprecher, die links und rechts, oberhalb unserer Häupter lautlos auf den Einsatz warten. Es werde streng für mich. Der präsentierte Schalk in seinem bärtigen Gesicht weise ich der Ironie zu. Müde lausche ich den Erklärungen des Touristenführers. Er macht auf die alte Karawanserei aufmerksam, die getarnt durch die dominierende, sandbraune Umgebungsfarbe in der Steppenlandschaft auf eine neue Blüte wartet. 900 dieser Unterkünfte soll es auf dem iranischen Teil der Seidenstrasse geben. Erklärt wird auch, dass der schneebedeckte, felsige Solitär Wasser für vier Dörfer liefert, die sich an dessen Hängen befinden. Ich bestaune die ungewohnt schnell vorbeiziehende Landschaft. Mein Gehirn verarbeitet die vielen Datenströme, welche ihm die Augen in schnellen Links- und Rechtsbewegung liefern, zu träge. Es bildet sich ein Datenstau, der Körper ermüdet. Just in jenem Moment erklingen die unscheinbaren Boxen in einer illegalen Lautstärke, die ich ihnen nicht zugetraut hätte. Urplötzlich erheben sich die vorhin erschlafften Geister. Die halbtransparenten, zum Teppichmuster passenden Gardienen, werden durch flinke Hände hastig zugezogen. Der Gang wird ausgefüllt mit tanzenden Körpern. Rhythmisch bewegen sich diese zur persischen Musik. Lippenbewegungen geben lautlos die Texte wider. Offenbar geniesst das Tanzen Priorität. Die Umgebungsluft füllt sich mit dem Geschmack transpirierenden Menschenfleisches.

Das Unheil lässt den Europäer nicht lange auf dem Sitz. Viele tanzende Hände fordern den ungelenken, antirhythmischen Velofahrer zum Tanz auf. Er erhebt sich so widerwillig, jedoch sensibel genug, dass es nicht spürbar ist. Unter tosendem Beifall - gewiss waren auch Pfiffe dabei - imitiert er die Bewegungen von Startänzer Ali Reza. Der lässt die Brust und das gesamte Gewebe der vorderen Körperpartien erzittern. Wie sind solche komplexen Bewegungen bloss zu erzeugen? Nicht überlegen, tanzen! Weiter geht's im Takt. Meine Güte diese synchronen Bewegungen, getaktet bis in die Fingerspitzen. Vermutlich ziehen draussen interessante Landschaften vorbei. Dass der Bus in hohem Tempo fährt, erkenne ich an den unsanften Berührungen mit den Sitzen. Endlich ist das Lied vorbei. Applaus! Der Bus johlt. Soll ich mich verbeugen? Nein! Für diese Darbietung ist das unangemessen. Immerhin trage ich zur Volksbelustigung meinen Teil bei. Langsam setze ich mich auf meinen freien Platz und glaube ernsthaft dieses Verhalten stösst auf Akzeptanz. Ich werde zurück auf den Gang beordert, ohne dass anschliessend Fortschritte in den Bewegungen ersichtlich wären. Noch habe ich gar nicht gefrühstückt. Nicht einmal die prominente Rüebli-Konfi hat ihren Zucker in mein Blut transferieren können. Sandro, imitiere die Bewegungen! Linkes Bein nach vorne, eine viertel Drehung, linkes Bein zurück, zweifacher Hüftschwung im Uhrzeigersinn. Durch die Fliehkraft stupsen meine Rippen den Sitz. Zurück im Gang, es folgt eine 180 Grad Drehung, die mir durchaus gelingt. Zuerst hättest du das rechte Bein nach vorne setzen sollen. Immerhin entfällt das Zurücknehmen. Und die Hände? Nein, sie hängen nicht lustlos an den Schultern wie die Äste der Trauerweiden. Die Finger sind nicht zur Faust geballt. Etwas mehr Aufmerksamkeit! Was? Wieder Gejohle. Immerhin ist das Publikum anspruchslos.

Erst der Picknickplatz erlöst mich vom tanzbeinschwingenden Zwang. Meine Muskeln in den Oberschenkeln ziehen sich zusammen und erzeugen einen unbekannten Schmerz. Zwar befreien sie mich anschliessend von weiteren, schwankenden Bewegungen, so richtig überzeugend wirkt mein Argument nicht. Der Gang des Busses mutiert erneut zur Bühne, auf der sich adrette, talentierte Geschöpfe mit dem Rhythmus bewegen, als würden sie das täglich prozedieren. 

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